Seiten

Dienstag, 24. September 2013

Bucuresti

Warum nicht der ländlichen Idylle entfliehen? Nach Bukarest?




Cosmin brachte mich am Morgen um halb sieben nach Pitesti zum Bahnhof. Mit dem Klapper-Dacia. (Das Rolling sweet home wartet besser auf der Weide direkt hinter dem Hotel Loredana.)

Der Bahnhof von Pitesti, immerhin grösser als St.Gallen, verdient den Namen „Bahnhof“ insofern, als hier eben die Züge anhalten und abfahren.
Am Billetschalter übernahm Cosmin. Fahrpreis: 36 Lei (= Bern – Zürich für 10 Euro). Ich legte die Nötli hin, Cosmin erklärte der Schalterangestellten, dass ich Elvetian sei, um gleichzeitig – schwupps – eines der Zehnernötli wieder wegzunehmen, welches er mir draussen stolz überreichte. „Siehst du, nur 26 Lei!“

In Bukarest angekommen, suchte ich zuerst ein Restauräntli mit bequemer Aussenbestuhlung für den dringenden Kaffee. Wie hiess es? „Amica Elvetian“! Der eindeutige Trend in der Altstadt- und Touristenzone ist jedoch British. Fast alle Lokale sind auf Englisch, Irisch und Schottisch getrimmt. So glaubhaft, dass die ganze Szenerie, zusammen mit den historisch-abgefurzten Fassaden, wirklich wie das Zentrum von Birmingham wirkt. 

Dann zog mich halt wieder mal das Faszinierende am Abstossenden an. Ich musste diesen ungeheuerlichen Ceausescu-Palast sehen. Dieser hat allerdings einiges an Ungeheuerlichkeit verloren, da ja jetzt von nicht weiter Entfernung der unverschämte McDonalds-M zu ihm hinüber leuchtet.  


Nach einem schottischen Bierchen mit Internet quatschte ich einen Taxichauffeur an. Ich hatte das Näschen für den richtigen gehabt. Er sprach fliessend, sehr fliessend, Italienisch. Ein Hotel? Die seien halt teuer in Bucuresti. Er könne mich doch in ein Hotel etwas weg vom Zentrum bringen. („Jaja, taxi driver tricks…“, denkt Herr Schweizer.) Ein bisschen reden, über Fussball und Frauen, ist immer gut, so dass er auf eine andere Idee kam. Nämlich seine Schwester, die zusammen mit ihren erwachsenen Kindern im Zentrum wohne und halt finanzielle Probleme habe, anzufragen, ob sie mich beherberge. („Jetzt ganz vorsichtig sein!“, flüsterte mir Herr Schweizer ein.) Aber man kann sich das Ganze ja mal zeigen lassen.

Und es war ein Volltreffer! Wie in der 10. Minute mit 2:0 vorne zu liegen. Die Madame, Felicia, ist Mitte 40, mit Niveau und spricht einigermassen Englisch. Die Tochter ist gegen 20, in Ausbildung und sehr scheu. Der Sohn – und jetzt kommt`s! – ist Fussballspieler bei Steaua! Bzw. zur Zeit ohne Vertrag. Und vor allem ein sehr guter Typ. Mit grossem Wissen und sehr kritischem Denken. Nicht nur über Fussball.


Der folgende Abschnitt kann von den Fussballmuffels übersprungen werden. Sie werden aber etwas verpassen.

Also: Jean P. schaffte es als zentraler Verteidiger und Midfielder in die erste Mannschaft von Steaua. Dann wurde er an einen andern Club ausgeliehen. Die Gründe sind vielfältig, bzw hier in Rumänien unglaublich vielfältig. Was der mir für Geschichten über die korrupten, mafiösen Zustände erzählt hat! Besonders ist ja auch, dass er dies überhaupt erzählt, was mit seinem Wesen und Charakter zu tun hat. Er ist alles andere als ein dummer, sich den Regeln unterwerfender Spieler. Gestern Nacht haben wir stundenlang über Salvador Dali, den Islam, die schweizerische Ausprägung der Demokratie (wie genau werden die sieben Bundesratssitze verteilt?), die Zeiten unter Ceausescu, die rumänischen Medien und die grassierende Prostitution und deren Zusammenhang mit der Macht der neuen Reichen und Superreichen. (Mehr zu Letzterem? – Die Prostituierten haben TV-Auftritte und sind wichtige Steig- bzw. Einsteigbügel in die Welt des sinnlosen Reichtums. Es ist für Männer wichtig, sich mit ihnen zu zeigen und die entsprechenden Stories und Skandale am Fernsehen tagesserienmässig ausgeschlachtet zu bekommen. Ein nettes Geschenkli der Aufmerksamkeit in Form eines 100`000 Franken teuren BMW an eine solche Dame ist dabei nur ein Sprutz Weihwasser. Klammer geschlossen) Unser lieber Jean P. taugt eben nur bedingt fürs Show-, Korruptions- und Machtbusiness, was arge Konsequenzen nach sich zog. Als er nämlich mit dem neuen Verein gegen Steaua spielte, nahm ihn der Steaua-Boss in der Pause zur Seite und verlangte, dass er in der 2. Hälfte so spielen müsse, dass Steaua noch gewinnen könne. Und was machte Jean? Er spielte weiter stark und rettete sogar einen vom Torhüter durchgelassenen (!) Ball auf der Linie. Und jetzt ist er ohne Verein. (Die Bosse von beiden Clubs sind natürlich zusammen verbandelt.) Er hält sich jetzt fit und überprüft Möglichkeiten eines Wechsels ins Ausland (Türkei? Schweiz?). Dazu braucht es aber wieder die richtigen Kontakte… Ist dies mein Einstieg als Agent ins Fussballbusiness?
 


29.9.
 
Nach fünf Tagen habe ich das liebliche Bukarest am Freitag verlassen und bin nach Hause aufs Land gegangen. Oh, wie ruhig! Wieder Pferde, Hühner und Hunde ums Sweet Home herum, und Weide, Bäume und der Friedhof.

Bucuresti… Ein harter Brocken. Auch zum Beschreiben. Ein Brocken, der im Halse höckelt und sich räkelt und nicht weiss, ob er hinunter oder hinauf will. Ich versuch`s mit Bildern, Eindrücken und Episoden, frisch von der Hals-Leber weg und so locker wie`s halt geht:


Da ist zum Beispiel der Boulevard Decebal. Nichts Spezielles, ein bisschen breit halt, mit Bäumen. Hier sind aber in letzter Zeit edle Cafés entstanden, und davor stehen nicht nur Dacias, sondern Porsches, Audis, Mercedes und BMW`s. Hier werden Kontakte geknüpft (tönt schön..). Also rein in so ein Lokal! Ein perfekter italienischer Espresso ist immer noch nur halb so teuer wie in Svizzera, und die Toiletten genoss ich wie einen Schönheitssalon. Spieglein, Spieglein an der Wand, wo sind die Schönsten vom ganzen Land? – Ich sass an einem Tischchen und beobachtete. Schräg gegenüber, an der Glaswand (man muss ja hinein- und hinausschauen können), zwei Schöne. Zwei schöne Wartende. An anderen Tischen meist Gruppen von vier bis sechs jungen Aufgestellten. Es wurde Feines gegessen und getrunken. Ist-das-Leben-doch-schön-Stimmung. Aufmerksame, sehr höfliche Kellner wieselten herum. Zum Ganzen lief Hintergrundmusik – Unterhaltungsjazz.



Da erhielten die zwei wartenden Schönen Gesellschaft. Ein locker-jovialer junger Mann, hell angezogen, durfte begrüsst werden. Let`s say: unsympathischer Säuli-Kopf, gut genährtes Millionärssöhnchen. Er entertainte die zwei. Nicht sehr spannend für mich als Spanner. Aber doch! Draussen vor der Glasscheibe erschien ein Knabe, etwa 12-jährig, in schlechten Kleidern, einer aus der andern Welt. Durch die Scheibe hindurch versuchte er, sich mit dem Bubi-Entertainer zu verständigen. Bubi arm und Bubi reich entdeckten einen Spalt, dort wo die grossen Glasscheiben zusammengefügt sind. So konnten sie reden miteinander, und ihre Köpfe waren ganz nahe beisammen. Nur die dünne Scheibe trennte sie, die zwei Welten. Warum lässt sich Bubi reich überhaupt darauf ein? Weil er sich lustig macht über den naiven, kleinen Kerl, weil er sich produziert damit vor den Schönen, und immer noch einen obendrauf setzt und den Kleinen wieder heranwinkt, der seinerseits auf ein Papiergeldchen hofft, das gut durch den Spalt passen würde, und ihn an der Nase herumgeführt, die jener von aussen an die Scheibe drückt. Und die zwei Schönen? Sie lachen, sie finden das Spielchen des BMW-Bubis lustig. Bis er es jäh abbricht, als sein Handy klingelt, und den Buben mit strenger Miene und klaren Gesten wegschickt. Game over.
Es geht nur ums Geld. Bei allen. Die, die es im Überfluss haben, spielen ihre „lustigen“ Spiele damit. Die, die gar keines haben, laufen in den Socken auf der Strasse herum und betteln darum. Die dazwischen wissen nicht, wie sie die Stromrechnung abstottern sollen, wenn die nächste Rechnung schon da ist und die Tochter Geld für Schulmaterial braucht. Die Tochter ihrerseits möchte aber Lippenstift, Nagellack und schöne Schühlein kaufen. Immer wieder höre ich es, das Wort „bani“ und das „nu bani“.
Mein Taxichauffeur-Freund tankt, wie viele, jeweils nur einige Liter. (Im Dörfchen Vieros fragte mich der Bruder von Cosmin, Angestellter in den Dacia-Betrieben und stolzer Besitzer eines Opel Astra, ob ich ihm zwei Liter Benzin geben könne. Und als ich Cosmin an der Tankstelle ein paar Liter bezahlte, zeigte er anschliessend grinsend auf den Zeiger der Tankuhr, der jetzt tatsächlich einen Fünftel voll anzeigte.) Der Taxichauffeur bräuchte aber noch 200 Lei, um etwas Dringendes reparieren zu lassen. Nein, Zigaretten habe er grad keine, „nu bani“. „Komm, wir gehen etwas trinken“, schlägt er vor und führt mich zu einem Laden. „Was möchtest du?“, fragt er. Wir nehmen je eine Cola. An der Kasse legt er noch drei Schoggi-Riegel dazu, als ich mein Portemonnaie zücke… So laufen Einladungen. Ich entscheide jeweils ad hoc, ob ich mit in den Laden gehe oder draussen eine Zigarette rauche. – Schuhläden habe ich mit meiner Landlady keine betreten.
Die Doppelmoral treibt ihre Blüten unter diesen Bedingungen. Da beklagt sich der junge Mann über seine Freundin. Sie sei krankhaft eifersüchtig. Sie sage immer, er hätte etwas mit anderen Frauen. Es sei zuviel für ihn, er bleibe ihr für ein paar Tage fern. Und was tut er in diesen Tagen? Er vögelt zwei geile Girls. Am dritten Tag sagt er mir, er gehe jetzt zu seiner Freundin, um sich zu versöhnen, aber er fügt verschmitzt lächelnd an, auf dem Weg dorthin treffe er zuerst noch eine Dritte. Mein Erstaunen quittiert er mit der lapidaren Feststellung, so seien wir „barbats“ nun halt. So sind tatsächlich sehr viele Männer hier. Und ihre Frauen wissen`s und erdulden`s. – Es ist normal.

Das „britische“ Viertel, die Altstadt, ist die Ausgehmeile, da ist bis in die frühen Morgenstunden Rambazamba. Es ist wie in einer mitteleuropäischen Stadt. Alle trendig angezogen, die Girls sowieso, „wie wenn man Geld hätte“. Bettelnde oder Blumen verkaufende Kinder sind auch darunter. Eine verwahrloste alte Frau weint laut und bettelt ein Paar an. Die junge Frau schreit sie an und wiederholt mehrmals ihren bösen Rat: „Gehe arbeiten, such dir einen Job!“ Daneben verteilt ein sexy Girl Handzettel, die für einen Erotiksalon werben. Ein Mann wühlt in einer Mülltonne. Er sucht nach Pet-Flaschen. Die Champagner-Flaschen, die auf den Tischen ein paar Meter weiter stehen, sind nicht aus Pet. Einer führt beim Gehen ein Selbstgespräch und bekreuzigt sich dauernd. Oder ist`s ein Dialog? Mit IHM? Was erhält er für Antworten?
In der Shopping-Mall gibt`s alles. „Wie bei uns“. Alle Smart-, Ei-, Giga- und Gagaphones, Juwelierläden, Modeläden, den gediegenen Tabakwarenladen, die Geschenkboutique, Parfümerien, eine Weinhandlung… Nur etwas ist rarer „als bei uns“: Die Kunden. Und draussen kotzt einer.


„Securitate“ hiess der Geheimdienst zu Ceaucescus Zeiten. Und so heisse er heute noch. Es gebe noch mehr von diesen Spitzeln. „Wozu denn?“ – Sie würden einfach alles über einen registrieren. Mit wem man Kontakt habe, wofür man wieviel Geld ausgebe usw. „Wie denn?“ Sie fahren einem mit dem Auto hinterher, sie hören das Telefon ab. „Was machen sie denn mit den Informationen?“ Sie geben sie weiter, wenn man sich für etwas bewirbt oder einen Mann kennenlernt. Sie behaupten dann, man, bzw. frau sei eine Prostituierte. (Die Hitparade der am meisten gehörten Wörter ist für mich: An erster Stelle „bani“, an zweiter Stelle „maine“ – morgen, und an dritter Stelle „prostituata“. Die Wörter „multumesc“ – danke und „buna ziua“ – guten Tag sind weniger oft zu hören. Und irgendwo dazwischen, sei es für die Äusserung einer Meinung oder bloss als Zeitangabe, kommen immer wieder die Wörter „Ceausescu“ und „revolutie“ (vor oder nach der „revolutie“) vor. Und beide, der bäuerische kommunistische Diktator und die 1989 so grosse Hoffnungen weckende Revolution, haben in ihrer rumänischen Schreibweise ein Schwänzchen unten dran. Ein hängendes, kein aufrechtes.





Auf dieser Terasse der damaligen Parteizentrale soll Nikolausi nochmals und zum letzten Mal versucht haben, sein Schwänzchen in die Höhe zu recken. "Zeig`s ihnen, Klausi!", soll Helena aus dem Salon dahinter gerufen haben.


. . . auf dem Nachhauseweg