Seiten

Freitag, 25. Oktober 2013

Das Ziel ist das Ziel

… und der Weg kann schön sein, oder auch beschissen.

Mein Reiseziel, das ich in ein paar Tagen erreichen möchte, liegt etwa 500 km östlich von Sibiu. Schauen mer mal.
23.10.  Heute habe ich die ersten 100 km dahin zurückgelegt. Durch die schöne und warme Herbstlandschaft von Siebenbürgen. Bzw. Transsilvanien. Bis Sighisoara, deutsch Schässburg.
Die Dörfer sehen weniger ärmlich aus als im Süden, und die Landschaft ist lieblicher. Sonst war nichts Besonderes heute. Ausser dass mir eine junge, garagenkalenderbild-getunte Blondine in Sighisoara „Halo“ gesagt hat, als sie mir zum dritten Mal begegnet ist. „Hello“, habe ich gesagt.







24.10.  Crazy Romania! Romania nebuna! Heute Morgen – ich hatte noch kein Frühstück im Magen, nur einen Kaffee – hat mir „eine“ mehr als „Halo“ gesagt. Bunt zigeunermässig gekleidet, halbsauber, kaputte Zähne. Hat an mir gleich dorthin gegriffen, wo sie ihr Geschäft machen wollte. Fluchtwege hatte ich keine, denn sie sass neben mir im Auto. Ich tat, was ich in Syrien tat, als zwei Kalaschnikows zu Besuch kamen: Locker und freundlich sein, einen Kaffee anbieten und konversieren. (Ich hatte mich nämlich für die bevorstehende Fahrt mit einer Thermosflasche Milchkaffee gewappnet.) Sie müsse ihr Essen erarbeiten. „Schau, ich habe zwei Brötchen, nimm sie!“ Sie habe fünf Kinder zu Hause. Und keinen Mann.  Ob wir es jetzt tun? „Wieviel kostet es denn?“  10 Lei. Das sind 2 Franken 50. Das mit dem Essen, den Kindern und dem fehlenden Mann stimmte wohl. Das gibt es tausendfach. Also ein Kaffee, die Brötchen, drei Zigaretten „und die zehn Lei gebe ich dir einfach so“. Aber warum wir es denn nicht . . . „Wieviele Kunden hast du denn pro Tag?“ Nicht viele, etwa einen. Ich rechne: Stunden- und tagelang an dieser Abzweigung stehen für ein monatliches Einkommen von 100 Franken . . .

Es folgte eine wunderschöne Fahrt durch Transsilvanien (inklusive Wälder) und durch die Karpaten. Die Gegend ist abwechslungsreich. Hügel, Berge, Weiden, Äcker, Hochebenen und gepflegte Dörfer. Hier leben Ungarn. Sie fühlen sich so und sie sprechen so. Und sie scheinen mehr zu tun. Die im Süden seien eben vom Balkan… Und die im Süden hatten mir gesagt, sie mögen die Ungarn nicht. Sie wollten sich nicht anpassen... Tja.

Dort hatte ich die zweite Begegnung des Tages. Ein hungriger Bettelnder mit hohem Berufsethos. Ich streckte ihm zwei Lei hin. Er nahm sie nur widerwillig, bückte sich und kratzte mit den Fingern auf Mutter Erde.  Verbal war er heute (oder ist er wohl grundsätzlich) nicht Spitze drauf. Dann sagte er sein  erstes Wort: „Paine“ (Brot). Ich gab ihm eines. Die Banane lehnte er ab. Da er nicht gerade wie ein Firmling angezogen war, griff ich noch in die Kleiderkiste. Kein Interesse. Ich hielt ihm eine Hose hin. „Mare“, sagte er nur (gross). Er biss ins Brot und wendete sich ab. Um aber nochmals zurückzukommen und mir sein drittes Wort zu schenken: „Salum“ (Wurst).  Dann ging er. Ein Rumäne, den das Geld nicht interessiert!
Danach kam ein Hund. Abgemagert bis auf die Rippen. Da sass er, vor der Tür des Rolling sweet home, und schaute lieb zu mir herauf. Als ich hinausging, legte er sich mir immer in den Weg, unterwürfig, besiegt, chancenlos. Wir teilten uns das restliche Brot und die restliche Wurst.




Warum beschreibe ich diesen Mann und sein Verhalten so ausführlich? Warum wollte ich ein Foto von ihm haben? Warum schickte mir der Dumne Zeu gleich auch noch den Hund? – Weil mich immer wieder die Frage beschäftigt (und manchmal auch plagt), wie ich wäre, wenn ich in diese oder jene Situation hinein geboren worden wäre. Wenn ich ein Leben lang jeden Tag in jener Hütte, zu welcher der Brotbettler nachher zurückgegangen ist, erwachen würde. Wenn ich im wildwest-kapitalistischen-nachkommunistischen Bukarest eine junge Frau wäre. Wenn ich ein schweinchengesichtiger Millionärssohn wäre. Wenn man mir als letzten, dürren Durchhaltewillen die ewigen Jagdgründe des Dumnen Zeu in Aussicht stellen würde. „Oh Gott, warum hast du mich verlassen?“, hat der erste bekennende Atheist vor 2000 Jahren kurz vor seinem Tod gesagt.








25.10.  Onesti war eine Stadt ohne Zentrum, ohne history, ohne Blut. Scheinbar war da mal oder ist da ein bisschen Industrie. Dafür haben sie eine Menge Platz. Eine Strassenkreuzung hat die Ausmasse eines Fussballplatzes. St.Gallen hat den oberen Graben und den unteren Graben und den hinteren und vorderen Graben und weiss nicht, wo es die paar Postautos hinstellen soll, weil es dummerweise auch noch Fussgänger gibt. Stadtplaner, besucht Onesti! Hier gibt es leeren Platz, einige Taxis und keine Menschen.

Ich hatte telefonischen Kontakt zu meinen 4 Männern:
Cosmin hat seine Stelle beim Schrotthändler nicht mehr. Personalabbau von 2 auf 1.. Jetzt leben sie nicht mehr von zu wenig Geld, sondern von keinem. Anca ist gesund und fröhlich.
Cristian hat seine Stelle als Pub-Wächter nicht mehr. Es war nur ein Aushilfsjob. Er geht jetzt vermehrt Gassi mit Frau und Hund.
Ovidiu lebt von den letzten Reserven, von frischem Sauser und der Milch der Kuh der Eltern. Und von Dokumentarfilmen.
Claudiu hat ein paar Tage Urlaub von den Heim-Kids und fährt in die Berge. Seine Stelle ist sicher (und Schweiz-connected).

Durch flaches Gebiet gelangte ich nach Galati, am Anfang des Donau-Deltas gelegen. Hier ist es ähnlich: Gross, und ein Zentrum existiert nur auf den Wegweisern.
Ich erreichte die Stadt im Dunkeln und fand gleich den perfekten Stadtcampingplatz. Neben McDonalds und einem Kinderkarussell.



Rumänien ist gross – die bisherige Route:



27.10. Galati. - An der Donau gibt`s einen Funkturm. Auf dem Funkturm gibt`s Bellavista und ein Stofftischtuch-Blumenväsli-Restaurant.



In der Stadt gibt`s ein Nachtleben mit bereiten Damen. Habe einer jungen Schönen zwei Cognacs spendiert, dann fand sie mich sehr nett. Ich sei auch morgen wieder willkommen. Ich wollte mit ihr . . . reden. Sie ernähre mit ihren Stangentänzlis und der Konsum- und überhaupt –animation ihre arbeitslosen Eltern und die jüngeren Geschwister. Dies ist realistisch und könnte genau stimmen. Und es könnte genauso auch nicht stimmen und wäre auch realistisch. Real war auch, dass mein dritter spendierter Cognac der letzte war, denn ein Blick und ein Riechtest ergaben, dass sie sich ein Schlücklein Almdudler oder so bringen liess. Sie könne doch nicht den ganzen Abend Alkohol trinken, erklärte sie sich mit unschuldiger Kindesmiene. „Ist okay, Baby, kommt mir auch wesentlich billiger so!“ Uiui, und das alles auf Rumänisch… Heute bleibe ich zu Hause, und es gibt Chäshörnli und ein Bier. Auf Schweizerisch.

Am Nachmittag wurde ich beim Rumänisch-Grammatik-Büffeln von meinen Nachbarn gestört. Den Karussell- und Putschautölibetreibern. Die Fahrenden solidarisieren sich. Man zeigte sich gegenseitig das „Haus“. Sie haben einen Slide-out-Teil mit Guckfenster, von wo aus sie das Geld einziehen. Buna idee, muss ich auch haben!



Auf nach Tulcea - habe ja das 500km entfernte Ziel . . .