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Mittwoch, 6. November 2013

Mamma mia!

   Mit Tempo 40 durch drei Welten

und über schlechte Strassen gelangte ich nach Constanta. (Das Schwänzchen am zweiten "t" macht daraus Constanza.) 
Landung geglückt - zentral - mit Wachhunden.



Der erste Teil führte, immer in Küstennähe, durch flaches Gebiet mit grossen Feldern. Ein Novum war, dass die Anzahl der Traktore und Landwirtschaftsmaschinen grösser war als die der Pferdefuhrwerke. Landwirtschaft kann stinken – gut oder schlecht. Hier stank sie schlecht. Ein Piss-Halt musste reichen, um dieser Landschaft meine Ehre zu erweisen.
Dann änderte sich das Bild und mit ihm der Geruch. Industrie-Landschaft. In diesigem Licht präsentierten sich rundherum alle Formen von Industrieanlagen. Türme, Masten, Kessel, Leitungsröhren, Kamine, Metallzäune . . . Gut, dass ich den Piss-Halt schon hinter mir hatte.
Eine Steigerung war aber noch möglich – und hätte einen gezielten Kotz-Halt verdient: Mamaia. Ein herziges Ferienbadeörtchen. Kilometerlang, das Meer immer ganz nahe, aber nie sichtbar, verdeckt durch riesige Hotelbauten, alle mit Sternen und schönen Namen, Restaurants und andere leuchtschrift- und palmendekorierte Lokale des Glücks. Vieles noch am Entstehen, um das Vergnügen quantitativ zu vergrössern. Zum Glück können sich 90% der Rumänen keine Ferien leisten, so bleibt ihnen wenigstens das erspart. Mamma mia Mamaia!
Es folgte nahtlos Constanta. Es scheint mir eine Stadt zu sein, die meiner Definition von Städten entspricht: Statt einiger Häuser Hunderte von Häusern, statt einiger Strassen Hunderte von Strassen, statt einiger Autos Hunderte von Autos, statt einiger Freude Hunderte von Freuden… Ich stelle mir vor, ich lebe hier. Und habe das Glück, Arbeit und einen Dacia Logan zu haben. Ich fahre täglich die Strecke Constanta – Mamaia – Zementfabrik – retour. Eines Tages würde ich am Zementkessel vorbeifahren. Einfach weiter. Durchstarten. Nach Babadag. Vorher hätte ich aber noch angehalten und mir in der Confiserie „Sprüngliu“ eine Tortu als Proviant gekauft. Beim netten Fräulein mit Namenschildchen am gestreiften Blüsli.  Mamma mia!
  

7.11. Was ich gestern bei der Ankunft und dem ersten Rundgang in Constanta übersehen habe: Es gibt hier Menschen. Was es nicht mehr gibt – und daher wird sie neu gebaut! – ist eine Altstadt.  Deren Durchquerung zwang mich mehrmals aus dem Sattel und ich musste das Velo tragen, so emsig (und halt auch buzin chaotisch) wird da gebaut. An das alte Casino, das Wahrzeichen Constantas, hat man noch nicht Hand angelegt. Die Bauabsperrungen enden gleich davor. Hier kann man tatsächlich nur Geld hinein-, aber nicht hinaustragen.




Dass die „Turtschis“ mal hier waren, ist nicht zu übersehen.



Der auf einer grossen und lärmigen Strassenkreuzung Panflöte spielende Zigeuner hat mir später beim Kaffee erzählt, eine seiner Töchter sei in der Schweiz. Auf welchem Bahnhof sie dort schläft, wusste er nicht. Er jedenfalls schläft auf dem Gara von Constanta.
Lustig ist immer wieder, wer mich eindringlich ermahnt, auf meine Habe aufzupassen. „Pass auf, wenn du dort oder dort hingehst. Die Zigeuner klauen alles.“ Und Ilje, der Panflöten-Zigeuner, war im Gärtchen der kleinen Kneipe überbesorgt mein neben mir stehendes Velo betreffend. Es habe hier überall Zigeuner… Imagepflege? Nein, es war Ablenkung. Denn nachher hatte ich zwar noch das Velo, aber das Portemonnaie, der Fotoapparat, das Handy, die Uhr, die Zigaretten, die Brille, die Jacke, das Hemd und sogar die Schuhe, alles war weg. Werde es gelegentlich in den Unterhosen auf dem Bahnhof Olten abholen.



Beim Casino wurde ich von Florin angesprochen. Auf Französisch. Il est là presque tous les jours, parce qu`il travaille comme peintre. Spezialität : . . . das Casino ! Und Karikaturen der Passanten. Lorse qu`on discutait de la Roumanie et de la vie en général, vergrösserte sich die Männergruppe nach und nach. Erst kam Gabriel dazu (er kann Deutsch, war eine Zeit lang in Worms, dort, wo einst Luther…). Er verteilte Handzettel, die zu einer Demonstration gegen die Art der Ausbeutung  von Gas und Bodenschätzen aufrief. Der nächste war Jean, ein sehr höflicher und zurückhaltender Handwerker. Dann ein kleines, sehr altes und scheinbar allseits beliebtes Männchen. Nicht ganz dabei, ein paar Meter abseits, der ehemalige Matrose und jetzige Alkoholiker, der durchaus das Zeug für die Kleinzirkusmanege hätte.




Zum Abschied machte mir der Peintre ein Cadeau: „Caricature avec nez expressive!“
O Constanta, fast hätte ich mich gestern voreilig in dir getäuscht . . .